Ein Nachlass

Passend zum Totensonntag eine ruhigere Geschichte:


Granny hat mich auserkoren, ihre Sachen durchzugehen. Wir haben uns immer gut verstanden, trotzdem kam das überraschend. Meine Mutter zeigte mir den dazugehörigen Brief nach der Beerdigung.

Nach Großvaters Tod schwand meine Granny dahin wie eine Blume, die verwelkt. Nicht schnell, ein paar Jahre hat es gedauert, aber sie verging einfach, als sehnte sie sich danach, an seiner Seite zu sein. Sie starb vor zwei Wochen ganz undramatisch, von jetzt auf nachher war sie weg.

Nun soll ich also das Haus ausräumen und bestimmen, wer was bekommen soll. Eine seltsame Bitte, aber niemand erhebt Einspruch. Sie besaß keine Wertgegenstände, also gibt es nichts, was ich mir unter den Nagel reißen könnte.

Das Haus fühlt sich anders an, man spürt sofort, dass ihm die Seele fehlt. Ich seufze und schiebe meine Trauer in die hinterste Ecke meines Herzens. Wenn ich gleich hinter der Tür anfange, rumzuheulen, werde ich nie fertig.

Wo soll ich beginnen? Mit ihrer Kleidung. Wir könnten sie spenden. Ich werde aussortieren und alles, was noch gut ist, einem Seniorenheim anbieten. Ich habe das Schlafzimmer nur wenige Male betreten und ganz sicher nie einen Schrank geöffnet. Da Granny nie im Krankenhaus war, mussten wir nie Sachen für sie packen. In einem Teil des Schrankes ist ihre Kleidung. Die ist recht schnell sortiert. Ich wende mich dem zweiten Teil zu, vermutlich die Seite, in der früher die Sachen von Grandpa steckten.

Die Tür ist abgeschlossen. Meine Intuition sagt mir, dass der Schlüssel in der Nähe ist. Tatsächlich finde ich ihn auf Großvaters Seite des Bettes im Nachttisch.

Beim Öffnen der Tür stockt mir der Atem. Unwillkürlich fasse ich an meine Kette und fingere die Triskele, die daran hängt.

In diesem Schrank sind keine Kleidungsstücke. Stattdessen ist er gefüllt mit Fesseln, Schlagwerkzeugen und Seilen. Nicht nur das. An der Rückwand hängt ein großes Foto in schwarzweiß, auf dem ich in der knieenden Frau meine Granny erkenne und in dem Mann, der über ihr steht und ihr Kinn mit einer liebenden Geste anhebt, Großvater. Erheblich jünger als ich die beiden in Erinnerung habe, vielleicht aus einer Zeit vor meiner Geburt. Bei der Beerdigung schauten wir uns Alben durch, nach ihrer Frisur muss das mehr als 40 Jahre zurückliegen.

Ich mache drei Schritte zurück und plumpse auf das Bett, das hinter mir steht. Wow! Völlig verwirrt schaue ich mich um. Ich bin immer noch in dem Schlafzimmer von Granny, alles ist genauso wie vorher. Sie hat sich nie altmodisch eingerichtet, eher solide, ohne Extravaganz. Die Extravaganz steckt hinter diesen Türen.

Auf einmal überfällt mich die Trauer hinterrücks. Wie muss das sein?

Wie wird es bei mir sein? Zurückgelassen zu werden von dem Menschen, den man nicht nur liebt, sondern dem man auf diese ganz besondere Weise verbunden ist? Der über mich bestimmt, der mein ein und alles ist, mein Leben, mein Atem, mein Herz? Nie wieder ohne seine Stimme sein, nie wieder seinen Weisungen folgen.

Ich weiß jetzt, warum Granny mich ausgewählt hat. Sie wusste also um die besondere Verbindung zwischen meinem Mann und mir. Wir halten es vor der Familie ebenfalls versteckt, weil wir der Ansicht sind, dass das, was wir in unseren vier Wänden tun, niemanden etwas angeht. Ich unterwerfe mich ihm dennoch nicht nur zuhause, beweise ihm meine Liebe und Hingabe außer Haus lieber durch kleine, unauffällige Gesten.

Hat Granny das auch so getan? Ich muss Mutter fragen.

Nein, muss ich nicht. Ich wurde von ihr beauftragt, weil sie wusste, wie ich denke. Weil sie wusste, dass ihr Geheimnis bei mir gut aufgehoben ist.

Schweren Herzens räume ich den Schrank aus. Diese Erbstücke kommen mit zu mir. Sie werden in einer Kiste auf unserem Dachboden stehen, bis ich sie eines Tages von jemandem auspacken lasse, der versteht, was sie bedeuten. Das Foto wird nicht auf dem Dachboden landen. Ich werde einen Platz dafür finden. Mein Herr wird sich wundern, aber ich glaube, dass auch er die Liebe zu schätzen weiß, die aus dem Bild spricht.

„Jetzt weiß ich, wo du das herhast!“, hänselt er mich, als ich ihm am Abend davon erzähle und es ihm zeige. „Schade, dass ihr nie darüber sprechen konntet.“

„Sie hätte nicht gewollt, dass es jemand weiß. Ich denke, sie wollte diese Erinnerung in ihrem Herzen behalten, ganz für sich. Der Schrank sah aus wie ein Schrein. Das teilt man nicht mit anderen.“

„Wirst du es deinen Kindern erzählen, wenn wir welche haben?“

Ich schaue ihn an und schmiege mich in seine Arme. „Vielleicht. Solch ein Erbe sollte weitergegeben werden, meinst du nicht?“

„Besser es zu leben als es in einem Schrein zu verstecken.“ Damit steht er auf und zieht mich in unser Spielzimmer. „Komm, Liebes, lass uns die Zeit nutzen, die wir miteinander haben.“

Mir ist, als wäre Granny bei uns. Aber nur bis zur Tür. Danach gibt es nur noch meinen Herrn und mich.


Foto: agneskantaruk©Depositphotos.com

Auch diese Geschichte ist entstanden aus drei Wörtern, die mir über Facebook auf Nachfrage vorgeschlagen wurden – Familie, Trauer, Liebe. Zu trübe? Aber passend zum November.

Wie ist es, wenn eine Sub ihren Herrn verliert? Für immer?

Es gibt nur eine Schlussfolgerung: Lasst uns das Leben genießen, solange wir können!

4 Gedanken zu “Ein Nachlass

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